Wenn ich auf dem Fundament der im vorhergehenden Heft gewonnen Grundanschauung von der menschlichen Natur hier darzutun suche, welchen Ansichten Goethe uber Erziehung, insofern ich darunter die bewusste Einwirkung eines Erziehers auf ein Erziehungsobjekt verstehe, huldigt, ist der Zweifel erlaubt, ob ich es so ohne weiteres durfen. Ist der Begriff der Erziehung bei Goethe so einheitlich, dass wir ihr Ziel aus demjenigen von der menschlichen Natur ableiten konnen, oder liegen die Anhaltepunkte fur die Beztimmung des padagogischen Zwecks nicht vielmehr in der Ethik und Religionswissenschaft? - Eckermann meinte, Goethe habe bei seinem Erscheinen zwei grosse Erbschaften getan : der Irrtum und die Unzulanglichkeit fielen ihm zu, dass er sie hinwegraume, und verlangten seine lebenslanglichen Bemuhungen nach vielen Seiten. Und Goethe hat seine Sendung erfullt. Goethe kam von Rousseau her und es ist ganz zweifellos, dass man in seiner Padagogik, so abweichend sie sich auch spater gestaltete, den Ausgang von jenem Heros der Aufklarung nicht nur behaupten konnte, sondern behaupten muss. Weiter, Goethe ist in seinem langen Leben durch die verschiedensten Bildungswund Entwicklungszustande hindurchgegangen, wovon uns seine Dichtungen ein getreues Abbild liefern. Man vergleicht "Werther" mit "Tasso," "die Geschwister" mit "Hermann und Dorothea." Wie er sich allmahlich immer mehr vom Geschmack seiner Jugend entfernt, dafur ist uns vor allem "Faust" ein Zeugnis. Ich glaube, man konnte seine Erstlingswerke, indem man dem einen "Energie der Gesinnung," dem andern "Energie der Empfindung" zuschrieb, treffend gekennzeichnet. Und Goethe war immer davon uberzeugt, dass diese Energien die antreibende Kraft der Erziehung und auch der Erziehungswissenschaft seien, weil bei Goethe Denken nichts anderes als Tun war.
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