1938 fing Gerhart Hauptmann an, sich mit einer neuen Novelle zu beschäftigen, die 1944 mit dem Titel ,,Mignon" vollendet wurde ist, aber erst posthum 1947 veröffentlicht wurde. Ausschlaggebend für die Entstehung der Novelle ist Hauptmanns Italienreise im Herbst 1937, bei der er die Inseln auf Lago Maggiore besucht hat.
Genauso wie Hauptmann selbst hat sich der Ich-Erzähler dieser Novelle entschlossen, nach Stresa zu reisen. In dieser Stadt am Lago Maggiore begegnet er einem Mädchen, das er Mignon nennt. Es schien ihm, als ob sie die wiedergeborene Mignon aus Goethes Roman ,,Wilhelm Meisters Lehrjahre" wäre. Aus der Leidenschaft zu ,,der neuen Mignon" bemüht er sich, nach ihr zu fahnden. Dieses Mädchen ist sozusagen seine ,,fixe Idee" geworden und er kann sie nicht vergessen, Man könnte sie zu der Reihe der Frauen zählen, die von der Schauspielerin Ida Orloff, die Hauptmann 1905 kennen gelernt hat, inspiriert wurden und in Hauptmanns Werken immer wieder auftreten.
Von größerer Bedeutung ist aber die Erscheinung Goethes. Wie der als Motto zu dieser Novelle zitierte Brief Goethes an Schiller -,,Ich will nun an die Gespenstergeschichte gehen. " — zeigt, tritt der Geist mehrmals im Werk auf. Das ist Goethes Geist. Zuerst erblickt der Erzähler in einem Café einen alten Mann, der ,,Goethe von Kopf zu Fuß" ist. Dann begegnet er auf Monte Mottarone wiederum Goethe. In der durch die Höhenluft verursachten Halluzination sieht er den alten Goethe in Begleitung Mignons, der ihm zu wüschen scheint, dass er sich um das Mädchen kümmert. Die mehrmaligen Erscheinungen Goethes lassen sich auch daraus erklären. Nach der Meinung des Erzählers nehme sich ,,der große Geist"(Goethe)"der hilflosen Lebendigen" (Mignon) an. Goethe wolle ihn zum wahren Freund Mignons aufrufen und sie in die Obhut des Erzählers und seiner Freunde bringen. Goethes Geist wird hier als Schutzgeist bezeichnet.
In den späten Notizen und Tagebüchern Hauptmanns finden sich die Reflexionen über die Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten in großer Zahl. Er glaubt an das Fortleben nach dem Tode und die geistige Gegenwart der Toten. Derselbe Gedanke liegt auch Hauptmanns letzter geschlossener Erzählung, ,,Mignon" zugrande. In dieser Novelle heißt es, ,,dass wir mit allen Verstorbenen tiefer und wahrer verbunden sind als mit den Lebenden." Sie ist sozusagen eine Widerspiegelung der Gedanken Hauptmanns über die Verstorbenen. Die Beziehungen zu den Toten stellen ein zentrales Thema dar, mit dem sich Hauptmann nicht nur in ,,Mignon", sondern auch in seinen späteren Werken immer wieder auseinandersetzt. Um die Novelle ,,Mignon" zu verstehen, sollen auch die anderen Werke des Dichters ausreichend in Betracht gezogen werden.
In der nächsten Abhandlung werden wir auf die Todesthematik in den späteren Werken Gerhart Hauptmanns eingehen und die Toten in ,,Mignon" in Zusammenhang mit denen der anderen Spätwerke erneut betrachten. Dabei dürfte wohl der Heroenkult, der vor allem in den Hamlet-Dramen Hauptmanns eine große Rolle spielt, aufschlussreich sein. Denn einer der frühesten Entwürfe zu ,,Mignon" trägt den Titel ,,Heros" und damit ist der Geist Goethes unter dem Modell des antiken Heroenkults zu verstehen.
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