Für Goethes Werk ,,Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795-96)" bezeichnend ist die Tatsache, daß der Raum und die Zeit in diesem Roman nicht einfach und eindeutig, sondern vielschichtig gestaltet sind. Was die Zeit betrifft, ist die Vergangenheit keine bloß verflossene Zeit, sondern die, die potentiell immer weiter fortwirkt und sich auch in der Gegenwart realisieren kann. Bei der Zukunft handelt es sich hier nicht um die Zeit, die noch bevorsteht, sondern die man vorwegnehmen kann als gegenwärtiges Erlebnis. Darüber hinaus stehen die Räume in diesem Roman nicht einfach nebeneinander, sondern sie liegen gleichsam aufeinander und können sogar ineinander wirken. Besonders zu berücksichtigen ist, daß in Zeit und Raum der Lehrjahre das Ursprüngliche sich leicht realisieren läßt: Das Sich-Bilden heißt für Wilhelm, dem Ursprünglichen zu begegnen und sich dieses als Kern Seines Selbst anzueignen. In dieser Hinsicht lassen sich im Bildungsprozeß Wilhelms zwei Phasen unterscheiden. In der vorliegenden Arbeit wird der erste Abschnitt seiner Entwicklung betrachtet.
Das wichtigste Moment der ersten Phase ist die Begegnung mit dem Ursprünglichen. Der Protagonist ist von Anfang an imstande gewesen, mit der Hilfe seiner Einbildungskraft das Ursprüngliche in Erinnerung zu bringen. Die ,Erinnerung' bedeutet hier nicht das Bewußtmachen früherer Eindrücke, sondern eine Erinnerung im Sinne von ,Anamnesis', nämlich das Wiedererkennen der ursprünglichen Wahrheiten in der Seele. Wilhelm erinnert sich immer wieder an schöne Frauengestalten, wie z.B. die Königin im Bild Der kranke Königssohn, Chlorinde aus Tassos Epos Das befreite Jerusalem sowie die griechische Göttin Athene und die Muse Melpomene. Sie sind jedoch keine Idealbilder, sondern Frauengestalten von dem Ursprung her, d.h. die androgyne Göttin, der ,Hermaphrodit'. ,Hermaphrodit' heißt ein menschliches Sein mit Geschlechtsmerkmalen beider Geschlechter, d.h. ein Urbild des Menschen vor der Geschlechterdif-ferenzierung. Dieses ist sowohl das Symbol der Vollkommenheit und Schönheit als auch der Ausdruck von Autonomie, Macht und Ganzheit. Wilhelm strebt danach, das antizipierte Ursprüngliche, den Hermaphroditen in der Wirklichkeit in seinen verschiedenen Gestalten zu erfassen und zu erleben: Mariane, Philine, Mignon und Gräfin.
In diesem Zusammenhang ist die Erscheinung der Amazone von entscheidender Bedeutung. Es ist das Erlebnis der ,Epiphanie'. Indem die Amazone über den verletzten Helden den Mantel legt, erschließt sie ihm ihre wahre Gestalt. Hervorzuheben ist, daß die Amazone alle Bilder des Hermaphroditen in sich integriert. Daraus wird ersichtlich, daß sie die ,Gestalt aller Gestalten', nämlich nichts anders als die Erscheinung des wahren Hermaphroditen ist. Die Amazone antwortet nun auch von außen auf Wilhelms Urbild der Menschen.
|